1 Hintergrund

Ärztinnen und Ärzte müssen täglich viele – auch weitreichende – Entscheidungen fällen. Wer Entscheidungen fällt, muss diese auch verantworten, so dass Medizinern naturgemäß in der Behandlung von Patienten eine sehr große Verantwortung zufällt. Dementsprechend sollten Sie als Medizinstudierende lernen, wie man Entscheidungen fällt und dies auf einem hohen Niveau beherrschen. Dabei reicht es nicht aus, dass man Entscheidungen nur aufgrund des aktuellen Wissensstandes erlernt – quasi wie einen Algorithmus. Da das medizinische Wissen sehr schnell wächst, ist es wichtig, generelle Entscheidungskompetenzen zu erwerben. Zudem wird die Zusammenarbeit mit den anderen Gesundheitsfachberufen immer wichtiger und so sind gemeinsame Entscheidungsfindungen im Team zu steuern und erfolgreich umzusetzen. Diese Entscheidungskompetenzen kann man dann im späteren Berufsleben jederzeit und unter verschiedensten Umständen anwenden. Im Augenblick lernen Studierende an der Medizinischen Fakultät Münster in den einzelnen klinischen Fächern, wie fachspezifische Entscheidungen zu fällen sind. Daraus eine generalisierte Entscheidungskompetenz zu entwickeln, wird bisher den Studierenden selbst überlassen.

1.1 Grundlagen der Entscheidungsfindung

Was benötigt man, um gute Entscheidungen treffen zu können? Sicher ist Intelligenz von Vorteil. Da Entscheidungen zudem nicht immer eindeutig sind (ergo zwischen verschiedenen Wahrscheinlichkeiten zu wählen ist), sind Kenntnisse in Wahrscheinlichkeitsrechnungen bzw. Statistik nicht schlecht. Dabei wird das praktische Verständnis von Wahrscheinlichkeiten und statistischer Problemlösung als sog. “Risikokompetenz” bezeichnet [1].

Nach Edward Cokely – einem der weltweit führenden Experten für die Psychologie der qualifizierten Entscheidungsfindung – korreliert (sog. fluide) Intelligenz stark mit Entscheidungskompetenz (r=0,4). Noch stärker aber hängt Entscheidungskompetenz mit der eben schon erwähnten Risikokompetenz zusammen (r=0,57, [2]). In einem Vergleich zwischen Risikokompetenz, beispielhaften Entscheidungsaufgaben und Intelligenz konnten Cokely und sein Team zeigen, dass Risikokompetenz 85 % (!) der vorhandenen Varianz erklärt, so dass er schließt, dass “… Risikokompetenz robust und eindeutig die allgemeine Entscheidungskompetenz vorhersagt” [2].

1.2 Perspektiven von Patienten, Ärztinnen, Ärzten und Medizinstudierenden

1.2.1 Perspektive von Medizinstudierenden

Risikokompetenz kann man mit dem sog. Berlin Numeracy Test (BNT) messen [3]. In einer Studie an Münsteraner Medizinstudierenden konnten wir zeigen, dass sie nur leicht bessere Werte als die Normalbevölkerung aufweisen. Es wurden im Durchschnitt zwei von maximal vier möglichen Punkten erreicht, wobei man davon ausgeht, dass für eine gute Entscheidungsfindung (und dass sollte der Anspruch an Mediziner*innen sein) drei und mehr Punkte nötig sind. Vor allem kommt es zu keiner Zunahme der Risikokompetenz im Studienverlauf (p = 0,37) [4: Medizinstudierende vom 1. bis 6. Studienjahr, 434 vollständige Datensätze, Alter: 23,6 ±4,1 Jahre, 49,1% der Teilnehmer männlich, Durchschnitts-Score von 2,03 ±1,44 Punkte].

Wenn Sie wollen, können Sie diesen Test selbst einmal durchführen: Bitte beachten Sie, dass die Funktionsweise des interaktiven Fragebogens 1.1 noch etwas instabil ist und nicht bei allen Browsern gleich gut funktioniert. Alternativ können Sie über diesen Link gehen oder die PDF-Version benutzen (siehe unten).

Abbildung 1.1: Berlin Numeracy Test als Shiny-App

Der Test ist zudem für Sie als PDF-Version im ILIAS-System Ihres Stundenplans (unter Medical Skills Lab, Termin 11) hinterlegt.

Ergebnisinterpretation:

Wie oben erwähnt, sind Sie mit 3 oder 4 der maximal erreichbaren 4 Punkte gut dabei. Sie werden wahrscheinlich keinerlei Probleme auch bei formalisierten Entscheidungswegen haben.

Wenn Sie bis zu zwei Punkte erreicht haben, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Ihnen eben diese formalisierten Entscheidungswege (sprich: Statistik) etwas schwerer fallen. Nichtsdestotrotz können Sie von inzwischen propagierten Alternativen gut profitieren. Dazu gehören zum einen natürliche Häufigkeiten [5] und auch Formen der Visualisierung, hier insbesondere Baumdiagramme [6]. Diese Alternativen werden wir Ihnen im Kurs vorstellen und mit diesen arbeiten.

1.2.2 Perspektive der Ärztinnen und Ärzte

So ist es nur konsequent, dass in Studien bei fertigen Ärzten folgende Ergebnisse gefunden worden sind:

  • Ärztinnen und Ärzte überschätzen die Genauigkeit von medizinischen Tests [7],
  • sie kommunizieren die relevanten Fakten oftmals nicht in kompletter und verständlicher Weise [8, 9],

und

  • sie lassen sich durch die Darstellung klinischer Evidenz manipulieren [10, 11].

1.2.3 Perspektive der Patienten

Generell weiß man, dass statistische Informationen für Patienten schwer verständlich sind [7]. Zudem (oder vielleicht auch gerade deswegen) wird der Nutzen medizinischer Maßnahmen häufig überschätzt [12].

Es ist dementsprechend ärztliche Aufgabe, Patienten Erfolgschancen und Risiken von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen so zu vermitteln, dass Patienten diese verstehen können. Dafür ist es natürlich erforderlich, dass Ärzte und Ärztinnen ihre eigenen Entscheidungen verstehen können.

1.3 Ziel des Projekts

Die Entwicklung einer generellen Entscheidungskompetenz ist für das ärztliche Arbeiten essenziell. Aufgrund der oben dargestellten Defizite möchten wir die Studierenden frühzeitig in ihrer generellen Entscheidungskompetenz schulen. Dabei soll insbesondere Wert auf das Entscheiden im Team gelegt werden. Dieses Projekt soll Ihnen Einblicke, Werkzeuge und Modelle an die Hand geben, damit Sie mit größerer Sicherheit, Vertrauen und einer deutlich höheren Effektivität entscheiden können. Das Kursmodell eignet sich für alle, die ihren eigenen Entscheidungsprozess untersuchen möchten und Techniken lernen wollen, um diesbezüglich effektiver und sicherer zu werden. Da Entscheidungskompetenz bei zunehmend wachsendem medizinischem Wissen immer wichtiger wird, wollen wir die Studierenden zu Beginn des klinischen Ausbildungsabschnittes in dem Erwerb dieser Kompetenz unterstützen.

1.4 Lernziele

Am Ende des Kurses sollten Sie in der Lage sein …

  • … den Wert und die Grenzen Ihres derzeitigen Entscheidungsfindungsansatzes zu beschreiben
  • … zu verstehen, wie sich äußere Einflüsse auf Ihre Entscheidungsfindung auswirken können
  • … einen evidenzbasierten Rahmen für Entscheidungen zu verwenden
  • … zu überlegen, wann und wie Sie andere in ihre Entscheidungsfindung einbeziehen
  • … klare Handlungsoptionen für sich selbst zu identifizieren.